Riga – Es ist nicht übertrieben, aber der Eingang zum Tagestreff „Sirdsgaisma“ könnte auch in einen Luftschutzbunker führen, gleicht sogar ein wenig einem Raubtier-Laufkäfig in einem Zirkus. Wenn man jedoch die mit Zusatzschlössern gesicherte Stahltür geöffnet hat, wird es ungleich freundlicher. Schlank der lange Gang zwar und gering die Deckenhöhe, aber ansprechend ausgestattet.
„Sirdsgaisma“ ist der Tagestreff für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in der Kurland-Vorstadt von Riga. 47 junge Menschen werden dort betreut, üblicherweise sind etwa 25 während der täglichen Öffnungszeiten des Zentrums anwesend.
Freiwillig ist keines von ihnen da. Die Kinder und Jugendlichen sind zuvor auf- oder vielleicht sogar straffällig geworden. Der städtische Sozialdienst hat schließlich verfügt, dass sie im „Sirdsgaisma“ betreut werden. Die Alternative könnte letztlich Heimunterbringung bedeuten.
Bei allen ist es mit dem familiären Hintergrund nicht zum Besten bestellt. „Gewalt, Prostitution, Drogen, Arbeitslosigkeit und Armut sind die dominierenden Lebensumstände“, erläutert Zentrums-Leiterin Baiba Vanaga (58). Die meisten von ihnen würden keine geregelten Tagesabläufe kennen und hätten nie gelernt, das eigene Leben aktiv zu gestalten.
Im „Sirdsgaisma“ lernen sie ein völlig neues Leben kennen. Kleine Pflichten müssen übernommen werden, wie beispielsweise Geschirr spülen, Wäsche waschen oder aufräumen. „Am Anfang ist das immer schwierig“, erzählt Baiba Vanaga, aber es würde schnell besser werden. Tatsächlich wird den Kindern dort einiges geboten. Zum Beispiel ordentliches Essen. „Viele kommen hungrig zu uns, geregelte Nahrungsaufnahme ist ihnen fremd“, so Baiba, und, fügt sie an: „Wenn der Magen leer ist, kannst du alles andere vergessen.“
Und eben „das andere“ soll die Kinder in ein neues Leben führen. Es ist erstaunlich, wie „Sirdsgaisma“ funktioniert. Wie eine fröhliche Familie, kann man sagen. Es wird kaum mit Verboten operiert, sondern mit attraktiven Angeboten, die kaum jemand ausschlägt. Gemeinsames spielen, beispielsweise, oder Sport, Ausflüge, Kino- oder gar Theaterbesuche. Sogar Spaziergänge durch schönere Stadtteile Rigas locken die Kinder. „Wir wollen ihnen ein anderes, ein besseres Leben zeigen und sie auf Wege leiten, dieses eines Tages für sich realisieren zu können“, erklärt die Zentrums-Leiterin.
Tatsächlich kann „Sirdsgaisma“ trotz knapper personeller und finanzieller Resourcen beachtliche Erfolge vorweisen. Beispielsweise verbessern sich die schulischen Leistungen trotz bildungsferner familiärer Lebensumstände regelmäßig. Die Stimmung im Zentrum ist angenehm, das Zusammenspiel zwischen Betreuern und Betreuten geprägt von Fröhlichkeit und Vertrauen.
Ich gestehe, als ich das Zentrum durch den „Laufkäfig“ betreten habe, war meine Erwartungshaltung eine völlig andere. Gott sei Dank, ich lag damit völlig falsch. Wolfgang Henze
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